Drohanruf schockt »Ricarda« in Gießen

An der Ricarda-Huch-Schule in Gießen kündigte ein anonymer Anrufer Straftaten an. Krisenteams werden einberufen, mehrere Streifenwagen rücken aus. Erst nach zwei Stunden gibt es Entwarnung.

Aus dem Gießener Anzeiger vom 10.07.2023 | Bild: Scholz; Text: Benjamin Lemper

Gießen. Schockmoment kurz vor den Sommerferien: An der Ricarda-Huch-Schule kündigt ein anonymer Anrufer am Dienstagmorgen gegen 8.50 Uhr Straftaten in der Schule und auf dem Gelände an. Zum genauen Wortlaut äußert sich die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen nicht, »aber das ging schon in Richtung eines vermeintlichen Amoklaufs«, bestätigt Jörg Reinemer, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mittelhessen, auf Anfrage des Anzeigers. »Aufgrund dieser Bedrohung mussten wir von einer potenziellen Gefahrenlage ausgehen und umgehend handeln«, ergänzt Direktor Peer Güßfeld. Sofortige Schutzmaßnahmen seien eingeleitet worden, mehrere Streifenwagen und Spezialkräfte rücken aus. Knapp zwei Stunden später kann nach einer »intensiven Prüfung und Bewertung« Entwarnung gegeben werden. Passiert ist zum Glück nichts, Schülerinnen und Schüler sowie das Kollegium seien »zu keiner Zeit tatsächlich in Gefahr« gewesen. Die Ermittlungen dauern noch an. Für den Verursacher – so er erwischt wird – könnte es teuer werden, denn die Polizei prüft, ihm die Kosten des Einsatzes aufzuerlegen. Vor knapp neuneinhalb Jahren sah sich die »Ricarda« übrigens schon einmal mit einer ähnlichen Situation konfrontiert.

Dass es in den USA an Schulen viel zu regelmäßig zu schrecklichen Gewaltausbrüchen mit unzähligen Opfern kommt, ist leider traurige Gewissheit. In Deutschland haben sich solche Horrorszenarien bisher nur selten abgespielt – was es nicht weniger furchtbar macht. Natürlich bereiten sich auch hier Bildungseinrichtungen mit Übungen auf Ernstfälle vor. Das kann neben einer Bedrohung zum Beispiel ein schlimmer Unfall oder ein anderes traumatisches Ereignis sein, erläutert Schulamtsleiter Norbert Kissel. »Wir sind jedenfalls gut geschult«, pflichtet Peer Güßfeld bei. Um die Sicherheit aller Beteiligten zu gewährleisten, seien am Dienstag die mehrköpfigen Kriseninterventionsteams der Kooperativen Gesamtschule und des Staatlichen Schulamtes – dazu gehören unter anderem Schulpsychologen – »unverzüglich einberufen« sowie die erforderlichen Schritte eng abgestimmt und koordiniert worden.

Per Durchsage habe man die Lehrkräfte aufgefordert, die Klassenräume nicht zu verlassen, die Türen zu verschließen, sich nicht an den Fenstern zu zeigen und vor allem Ruhe zu bewahren. Besonders wichtig: »Wir haben appelliert, nicht zu telefonieren oder Nachrichten in Sozialen Medien zu verbreiten, um keine Panik heraufzubeschwören«, berichtet Güßfeld. Das sei nämlich eine Lehre aus den Erfahrungen des Januar 2014 gewesen, als ebenfalls ein Drohanruf die »Ricarda« erreichte. Damals versammelten sich einige Klassen am Kirchenplatz, schnell kursierten Gerüchte, es gebe bereits Tote und Verletzte und es seien noch andere Schulen betroffen. Besorgte Eltern eilten wiederum in die Dammstraße, um ihre Töchter und Söhne abzuholen. Diesmal indes hätten sich alle umsichtig und besonnen verhalten, schreibt Güßfeld in einem Elternbrief, in dem er über den Vorfall »in den frühen Morgenstunden« informiert. Auch die Einsatzkräfte, denen der Schulleiter für »ihre schnelle Reaktion und ihre professionelle Unterstützung« dankt, hätten ausdrücklich gelobt, wie diszipliniert alles abgelaufen sei – trotz der Anspannung. Und: »Die Sicherheit und das Wohlbefinden unserer Schülerinnen und Schüler haben für uns oberste Priorität. Wir werden weiterhin wachsam sein und alle notwendigen Vorkehrungen treffen, um sicherzustellen, dass sich unsere Schule in einem sicheren Umfeld befindet.« Nachdem die Polizei sämtliche Gebäude durchsucht, aber nichts gefunden hatte, war an einen »normalen Unterricht« dennoch nicht mehr zu denken. Zwar sei ein Großteil der Kinder und Jugendlichen nach einer großen Pause an der Schule geblieben, dort sei es jedoch eher darum gegangen, das Geschehen zu analysieren und aufzuarbeiten. Sollte jemand besonders aufgewühlt oder verängstigt gewesen sein, so Güßfeld, habe er die Kollegen zuvor in einer kurzen Dienstversammlung gebeten, Schulpsychologen und -sozialarbeiter einzubeziehen und bei ihnen Hilfe zu suchen.

Die Polizei hat derweil ein Strafverfahren wegen »Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten« eingeleitet. Dazu werden etwa Telefondaten ausgewertet, zudem Gespräche mit Lehrern und Schülern geführt, um eventuelle Auffälligkeiten oder einen möglichen Auslöser für die jetzige Drohung aufzuspüren, erläutert Polizeisprecherin Sabine Richter. Einen konkreten Anlass sieht zumindest der »Ricarda«-Direktor nicht: »Die Noten sind ja längst vergeben und die Zeugnisse geschrieben.« Nicht auszuschließen also, »dass es sich ›nur‹ um einen Streich gehandelt hat, allerdings um einen ziemlich schlechten, der für große Aufregung gesorgt hat«, meint Norbert Kissel. Und Güßfeld hofft, dass derjenige, »der uns die letzte Woche vor den Ferien versaut hat«, rasch geschnappt wird.

Im Jahr 2014 hatte die Polizei zwei Monate später einen Verdächtigen ausfindig gemacht, der den Anruf gestand. Der 15-Jährige war kein Schüler der »Ricarda«. Eine ernsthafte Absicht, seine Drohung in die Tat umzusetzen, habe er demnach auch nicht besessen.

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